Es heißt oft, in britischen Stadien sei keine Stimmung mehr. Die teuren Eintrittspreise hätten die echten Fans in die Pubs und auf die Sofas vertrieben, und auf den geputzten Tribünen klatschten nun Kunden und gut betuchte Touristen im Takt. Aber auch nur, wenn irgendjemand etwas echt Spektakuläres macht. Fallrückzieher von der Strafraumkante oder Elfmeter mit der Hacke. Ansonsten herrscht die totale Langeweile. Auch weil so ziemlich alles verboten ist: Stehen, Biertrinken, Rauchen, Pöbeln. Bei Spielen in Arsenals Emirates-Stadium war es in den vergangenen Jahren oft so leise, als würden die Leute einer Oper lauschen.
So geht die eine Erzählung. Und ich will nicht behaupten, dass sie komplett falsch ist. Aber wenn man über britische Fankultur spricht, darf man eben nicht nur die Premier League betrachten, diesen größten kapitalistischen Auswuchs des modernen Fußballs. In den unteren Ligen ist die Stimmung nämlich oft blendend, und zudem ganz anders, als wir es aus Deutschland kennen. Keine Capos, die oberkörperfrei in Megafone krächzen. Keine monotonen Dauergesänge bei 0:3‑Rückstand. Keine ewiges Fahnengeschwenke. Dafür herrlich situativer Support, ironisch, anarchisch, manchmal asozial, aber oft auch smart.
Zu den Heimspielen von Dulwich Hamlet (6. Liga), Clapton FC (9. Liga), Whitehawk FC (8. Liga) oder Eastbourne Town (10. Liga) kommen oft mehr Fans als zu einigen deutschen Zweit- oder Drittligisten. Und auch in Wales oder Schottland finden sich unterklassige Vereine, die echte Zuschauermagnete sind.
Pures Gold für eine Fußballserie
Ende Mai war ich in Wrexham, nördliches Wales. Der dortige Fußballklub, AFC Wrexham, spielte früher mal im Profifußball, im FA Cup schlug er Anfang der Neunziger den FC Arsenal, davon erzählen sie heute noch in der Stadt. Seit 2008 hängt der Klub aber in der fünftklassigen National League fest.
International bekannt wurde der AFC Wrexham vor eineinhalb Jahren, als die Hollywoodschauspieler Ryan Reynolds und Rob McElhenney den Verein kauften und auf Vordermann brachten. Mit ihrem Einstieg in Wrexham begannen auch die Dreharbeiten zu einer Doku-Serie im Stile von „Sunderland ’til I die“. Sie heißt „Welcome to Wrexham“ und wird demnächst auf Disney+ zu sehen sein. Die Story über diese kuriose und brisante Übernahme könnt ihr hier lesen.
Jedenfalls, das erste Jahr war pures Gold für alle Beteiligten, vor allem das Saisonende verlief so dramatisch, als hätten Reynolds und McElhenney es sich tatsächlich in einem Drehbuch ausgedacht. Wrexham kämpfte sich in der FA-Trophy, einem Pokalwettbewerb für unterklassige Klubs, ins Finale. Dort verlor das Team vor 50.000 Zuschauern im Wembleystadion 0:1 gegen Bromley.
Gleichzeitig kämpfte die Mannschaft in der Liga um den direkten Aufstieg, den sie allerdings knapp verpasste. Sie schloss die Liga auf Platz zwei ab und musste am 28. Mai zu einem Play-off-Spiel gegen den Fünftplatzierten Grimsby Town antreten. Kein leidiges Hin- und Rückspiel, sondern nur ein Spiel – und zwar ein Heimspiel am Racecourse Ground. Was sollte schiefgehen?

Erwartet hatte ich taktische 90 Minuten. Viel Defensive, wenig Zauber, am Ende ein Elfmeter zum 1:0. Aber dann begann eines der wahnsinnigsten Fußballspiele, das ich je live in einem Stadion gesehen habe. Es war, als spielten die Mannschaften Handball. Mit dem Fuß. Und in doppelter Geschwindigkeit. Die Teams, so sah es aus, verzichteten auf ein Mittelfeld, das Spiel raste auf und ab, von Strafraum zu Strafraum, keine Querpässe, keine Atempause.
Nach 13 Minuten schoss Wrexham das 1:0, Grimsby glich zwei Minuten später aus. Nach 45 Minuten hätte es 17:17 stehen können, aber auch die Torhüter waren ganz gut drauf. In der zweiten Halbzeit ging der echte Wahnsinn los. Grimsby traf zum 1:2, Wrexham drehte das Ergebnis nach einer guten Stunde mit einem Doppelpack, 3:2. In der 72. und 78. Minute machte auch Grimsby zwei Tore in Folge, 3:4. In der 80. Minute schließlich der Ausgleich zum 4:4. Verlängerung.
ncG1vNJzZmhpYZu%2FpsHNnZxnnJVkrrPAyKScpWeVqHq4rdFmnKKmnZa5brXNZq6rnaidrq57lm5qcWpjaA%3D%3D